Es war einmal ein Huhn. Der Name war Erika und eines Tages fragte es sich, was nun.
Tag ein, Tag aus sah sie, wie andere Hühnerköpfe zur Erde niederfuhren und sich wieder freudig hoben. „Was zum Gegacker ist denn da auf Bodenhöhe?“, dachte es dann nicht selten, während Erika die verschwommenen Silhouetten ihrer Artgenossen musterte. Wenn Hühner wüssten, was eine Milchglasscheibe war, würde Erika ihre Sicht auf die Welt in etwa mit einem Blick durch eine solche Scheibe beschreiben. Aber da das nicht der Fall war, fragte sie ihre beste Freundin Ilse: „Warum senkt ihr immer zu die Häupter und macht eure Schnäbel stumpf?“
Die kleinen runden Äuglein ihrer Freundin wurden groß und gar der Schnabel klappte auf. Doch Erika sah nur verschwimmende braune Schlieren. Mit erregter Stimme rief Ilse da: „Das ist jetzt nicht dein Ernst! Wir müssen doch etwas auf die Rippen bekommen. Da ist doch kein Wunder, dass du aussiehst, wie dünnes Astwerk. Mich würde es nicht wundern, wenn dich Herbert bald hier rausfischt und zu einer schönen Brühe köchelt!“ Ich als Erzähler kann nur vermuten, dass dies der korrekte Wortlaut war, da mir die Sprache der Hühner nicht geläufig ist.
Was aber sicher war, war, das Bauer Herbert zur selben Zeit mit seiner Frau Ulrike beim Mittagstisch saß. Die Stirn der beiden war zerknittert, wie die Zeitung, die auf Herberts Lesesessel lag. Er wäre lieber noch eine Weile darin versunken, als sich mit solchen lästigen Fragen zu beschäftigen, aber wenn die Frau rief: „Es gibt Essen!“, dann musste man Folge leisten. So ist mal wieder Federvieh Erika Thema, die Herbert doch am Herzen lag, jedoch aussah wie „Gerippchen Unsterblich“ und keine vernünftigen Eier legte. „So kann es nicht weitergehen Schatz. Wir müssen wirtschaftlich denken und da müssen unsere Tiere vernünftige Eier legen. Da hilft auch nicht, dass du Erika mit der Hand aufgezogen hast“, legte Ulrike wütend los und schob sich schnell Rotkraut zwischen die Lippen, um nicht weiter zu schimpfen, denn sie merkte, dass ihr Mann auf dem Meer der Unsicherheit schwamm.
Er konnte seine geliebte Frau ja verstehen, aber dieses kleine gelbe Lebewesen über die Schwelle des sicheren Todes zu heben, nachdem er es mit der Hand aufgepäppelt hatte, war nicht einfach gewesen und jetzt sollte er Erika aufgeben? Nein, das war einfach nicht fair und vorstellbar. Das versuchte er seiner Frau mit blumigen Beschreibungen, von den schönsten Momenten, die er mit seiner Erika gehabt hatte, zu erklären. Aber je mehr Heile-Welt Bilder erzählt wurde, desto heißer wurde der Vulkan in Ulrikes Inneren und als ihr Mann schließlich geendet hatte, brach er aus: „Ich glaube, du siehst den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr.“ Mit diesen Worten stand sie auf und irgendetwas sagte Herbert, dass seine Frau in den Henkermodus geschaltet hatte. „Das kannst du doch nicht machen Röschen. Nicht meine Erika!“, jammerte er.
Doch es half nicht. Ulrike stand vom Tisch auf und ließ ihre Suchscheinwerferaugen durch den Raum gleiten. „Du bist doch völlig verblendet. Damit ist jetzt Schluss! Wo ist denn jetzt meine Brille?“, murmelte sie. Im inneren Herberts fanden Gebete statt, obwohl er nie am Abendbrottisch die Hände faltete, wenn seine Frau in sich ging. Vielleicht war das jetzt die herbe Retourkutsche des Herrgotts, denn sie fand ihre Brille und wenig später auch das Hackbeil. Die Frau stampfte zur Haustür und sagte noch: „Heute Abend gibt es Hühnerbrühe!“, dann fiel die Tür ins Schloss und in der anschließenden Stille schlüpfte ein jammerndes: „Erika vergib mir!“, aus Herberts Kehle. Doch Erika ahnte noch nicht, dass sie bald an die Himmelspforte klopfen würde. Sie philosophierte immer noch warum ihre Artgenossen den Kopf Richtung Boden strecken. War dies nicht ungesund für Kopf und Hals. Auch ihre Freundin Ilse übertrieb maßlos. Bauer Herbert war doch ihr Vater, der immer für sie da war. Sie hörte es rumpeln und scheppern und Ilse rannte auf sie zu, wie sie an der aufgeregten Stimme ihrer Freundin erkannte, während eine braune Schliere auf sie zu kam: „Oh nein!, was habe ich eben noch gesagt! Ulrike kommt mit Henkerblick und Beil. Erika! Du muss da weg und zwar schnell. Ich versuche sie abzulenken.“ Mit diesen Worten entfernte sich das verschwommene Braun wieder. Diese Aufregung verstand das Huhn ganz und gar nicht. Sie wollte doch einfach hier sein und nachdenken. Plötzlich erblickte sie dann einen graubraunen Berg, der schnell auf sie zu kam und donnernd rief: „Da bist du ja. Gleich gibst du eine herrliche Hühnerbrühe ab!“ Dann schrie dieser Berg und stürzte zu Boden. Die ganze Erde erzitterte und Erika wurde ein wenig in die Luft geschleudert. Flatternd kam sie wieder auf die Erde und spürte etwas unter ihren Füßen. Es war ein bisschen unbequem und sie verlor fast den Halt. Erika hüpfte ein bisschen zurück und blickte zum Boden.
„Was ist denn das?“, fragte sie sich. Das war der Moment, in dem das blinde Huhn das erste Mal die Welt mit klaren Augen sah. Denn sie blickte durch eine Brille, die Ulrike von der Nase gefallen war. Dies wusste das Huhn natürlich nicht. Aber was sie durch die Brille sah, war ein Korn, dass gelb und wohlriechend sich anbot, aufgepickt zu werden. Ulrike war indes wieder auf den Beinen und wollte schon nach dem Federvieh greifen und sah, dass das blinde Huhn pickte und fraß wie ein normales Huhn. „Vielleicht ist das doch nicht so ein dummes Huhn, wie ich gedacht habe. Manchmal muss man vielleicht nur abwarten. Mal sehen.“ Mit diesen Worten schnappte sie sich ihre Brille und das blinde Huhn war wieder blind. Aber es war noch ein Huhn und keine Hühnerbrühe.
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